© Valentin Domann | Seelower Eimer mit Stadtbranding
Wahl in Seelow: Vom Erdrutsch keine Spur
Bei der Bürgermeister*innenwahl in Seelow haben Sachpolitik und Kompromissbereitschaft gegen Diffamierungen und Populismus gewonnen.
Am Sonntag, den 27. August 2023, sorgte die Bürgermeister*innenwahl in Seelow (MOL) für überregionales Interesse – erwartet wurde hier ein nächster wichtiger Sieg der AfD auf kommunaler Ebene. Dass ihr der parteilose Gegenkandidat schließlich mit fast 70 Prozent der Stimmen eine deutliche Niederlage bescherte, verdient Beachtung – hat jedoch einfache Gründe in der lokalen Politikkultur.
Als jemand, der seit über vier Jahren zu Rechtspopulismus und Normalisierung rechtsradikaler Positionen unter anderem in Seelow forscht, war ich überrascht, als plötzlich von allen Seiten genau hier ein neuer „Dammbruch“ prognostiziert wurde. Nach dem ersten AfD-Landrat in Sonneberg (Thüringen) und dem ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister in Raguhn-Jessnitz (Sachsen-Anhalt) erwuchs, mitten im Sommerloch, ein medialer Hype um einen vermeintlichen Siegeszug der in weiten Teilen rechtsextremen Partei in ostdeutschen Kommunen.
Dem liegt ein einfaches Narrativ zugrunde: Die Partei, die mit populistischen Kampagnen und zum Teil rechtsextremem Personal auf Bundesebene längst etabliert ist, dort jedoch (noch) vom Mitregieren abgehalten wird, holt ihr Wachstum nun auf kommunaler Ebene nach. Sind Posten an der Verwaltungsspitze erst einmal errungen, bleibt den anderen Fraktionen keine Wahl, als sich über die „Brandmauer“ hinwegzusetzen, sodass Zusammenarbeit erprobt und schließlich auch auf höheren Ebenen umgesetzt werden kann.
Diese beständig wiederholte Erzählung scheint geeignet, um zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung heranzuwachsen – analog zu allgegenwärtigen Berichten von immer neuen „Schock-Umfragen“ zum AfD-Zuspruch. Dazu resümiert der Journalist Boris Rosenkranz auf Übermedien: Das „Geraune über einen vermeintlich unaufhaltsamen Aufstieg dürfte einen Effekt haben, und wenn es am Ende der ist, dass sich Leute gerne Gruppen anschließen, die erfolgreich sind oder scheinen, weil Menschen eben bei Erfolg gerne dabei sind“.
Und so wurde auch die Bürgermeister*innenwahl in Seelow in den Tagen vor der Wahl als Teil dieser Geschichte von zahlreichen rechten Campaigner*innen aufgegriffen. Nicht nur Jürgen Elsässer vom extrem rechten Compact-Magazin, sondern auch ranghohe AfD-Kader wie Tino Chrupalla ergriffen das Wort und unterstützten den Wahlkampf sogar vor Ort. Basierend auf tatsächlichen Wahlerfolgen der AfD, die in der Region etwa das Direktmandat für den Landtag gewann, ließ sich die Geschichte des kommunalen Siegeszugs der AfD auch hier gut weiterschreiben.
In der Neuen Zürcher Zeitung sprach die Journalistin Susann Kreutzmann etwa von „fifty-fifty“-Chancen, doch gleichzeitig auch davon, dass sich öffentlich kaum jemand äußern will. Das wiederum sollte stutzig machen. Ich führte in meinen Forschungen, die u.a. im Sammelband „Lokal Extrem Rechts“ veröffentlicht sind, in den vergangenen Jahren etwa 50 Interviews und Gespräche vor Ort – allesamt waren sie politisch und zeichneten ein komplett anderes Bild.
Hätte man den Leuten vor Ort tatsächlich zugehört, hätte man die eindeutige Niederlage, die der AfD-Kandidat erfuhr, vorhersehen können. Ein etwas differenzierter Blick im Medienrummel wäre wertvoll gewesen. Doch entweder wollte man diesen nicht abbilden oder man war mit der eigentümlichen Komplexität des Lokalen überfordert. Denn Wahlerfolge für die radikale Rechte stellen sich hier unter gänzlich anderen Voraussetzungen ein als auf Landes- oder Bundesebene. Zwei Punkte, auf die ich in den Gesprächen gestoßen bin, möchte ich hier herausgreifen.
Kompromissbereitschaft
Erstens regiert vor Ort der Kompromiss. Die Stadt hat sich (insbesondere im Vergleich zum krisengerüttelten ruralen Umland) in den vergangenen Jahren gut entwickelt – auch, weil in der Stadtverordnetenversammlung von Linke bis CDU konstruktiv zusammengearbeitet wurde. Der langjährige Bürgermeister Jörg Schröder (parteilos), dessen überraschender Tod im April 2023 die Neuwahl nötig machte, verstand es, diese Positionen zusammenzubringen und Politik zu machen, die mehrheitlich als pragmatisch und positiv für den Ort wahrgenommen wurde. In der Fachöffentlichkeit bezeichnet man solche Gemengelagen, die durch geringe Parteipolitisierung und Dominanz der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters gekennzeichnet sind, als „konkordanzdemokratische Settings“.
Und hier, so scheint es, kann die lokale AfD ihre radikale Kritik am Establishment weniger leicht ins Lokale übersetzen. Sie wirkt manchmal sogar abschreckend. So beliebt Bürgermeister Schröder war, so sehr brachte sich der AfD-Kandidat Falk Janke durch seine Attacken auf ihn selbst in Misskredit. Eine Gesprächspartnerin sagte mir bereits 2019 voller Überzeugung und stellvertretend für den gesamten Senior*innentreff in Seelow: „Nee, den wählen wir hier nicht. Der ist immer so hässlich zum Bürgermeister“.
Sachpolitik
Zweitens dominierten sachpolitische Themen die Auseinandersetzung im Seelower Wahlkampf. Zwar ging es auch um die beiderseits abgelehnte Aufnahme weiterer Geflüchteter, aber vordergründig drückt der Schuh viel stärker in den Themenbereichen Bildung, Gesundheit und Pflege. Die breite Koalition in den kommunalen Gremien, die unisono Robert Nitz unterstützte, hat dabei viele Projekte auf den Weg gebracht, die dem Ort nützen. Währenddessen, so die Wahrnehmung vieler Einwohner*innen, hat der AfD-Kandidat Janke seine Zeit in den kommunalen Gremien auf dem Ticket von Rechtsaußenparteien hauptsächlich damit verbracht, diese als politische Bühne zu nutzen.
Zudem herrscht in der Region ein Politikstil, den man ohne weiteres als lokalistisch bezeichnen kann. Das Wohl der Gemeinde steht nicht nur im Zentrum der Politik, ihre Interessen werden zudem vehement gegenüber übergeordneten Ebenen und auch gegenüber anderen, konkurrierenden Gemeinden eingefordert. Die populistische horizontale wie vertikale Gegnerschaftsbestimmung, die sonst Wasser auf die Mühlen der AfD ist, ist somit hier bereits von den etablierten Kommunalpolitiker*innen besetzt.
Dies zeigte sich etwa im Konflikt um einen Wohnverbund für Geflüchtete vor Ort in den Jahren 2018 und folgenden: Abwehrende Politik, die gegen Zuteilungsquoten vom Land aufbegehrt und (statt offen rassistisch) mit dem Wohle der Kleinstadt argumentiert, versammelt eine breite bürgerliche Koalition hinter sich, sodass die Interventionen eines AfD-nahen „Bürgerbündnis“ („Nein zum Ghetto“) marginalisiert wurden.
So sollte man die Wahlniederlage der AfD nicht als „Sieg der Demokratie“ missverstehen – einmütige also konkordante und lokalistische Kommunalpolitik weisen viele Demokratiedefizite auf und können selbst rechtsextreme Politik normalisieren. Doch sie sollte auch klar machen, dass sich Kommunen der vermeintlichen Erdrutschsiege der AfD erwehren können. Daneben zeigt sich, dass es oft angeraten wäre, den Leuten vor Ort besser zuzuhören, anstatt sich einem gut klingendem Narrativ des Rechtsrucks hinzugeben. Denn was nicht ist, wird gern herbeigeschrieben. Und statt kurzfristiger Aufregung braucht es eine starke und gut verankerte Zivilgesellschaft vor Ort, die der extremen Rechten auch abseits von kommunalen Wahlkämpfen entgegentritt.
Valentin Domann – Forscher am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin
In Seelow (Landkreis Märkisch-Oderland) wurde am 27. August 2023 ein neuer Bürgermeister gewählt. Da nur zwei Kandidaten angetreten waren, fiel die Entscheidung im ersten Wahlgang. Neuer Bürgermeister wird Robert Nitz (parteilos), auf den 68,5 Prozent der Stimmen entfielen. Falk Jahnke (AfD) erhielt 31,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 67,8 Prozent. Seelow ist die Kreisstadt des Landkreises Märkisch-Oderland und hat rund 5.600 Einwohner*innen.