Querdenken
„Querdenken“ ist eine aus Baden-Württemberg stammende Initiative mit bundesweiter Ausrichtung. Auf ihren Veranstaltungen werden die Regierungsverordnungen in der Corona-Pandemie kritisiert.
„Querdenken“ ist eine aus Baden-Württemberg stammende Initiative mit bundesweiter Ausrichtung. Auf ihren Veranstaltungen werden die Regierungsverordnungen in der Corona-Pandemie kritisiert.
Außerdem werden dort Verstöße gegen Hygieneregeln als Protestform zelebriert, Verschwörungserzählungen verbreitet sowie Reichsbürger*innen, Neonazis und sonstige extrem Rechte geduldet. Vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg wird die Initiative mittlerweile als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft.
Stuttgarter Modell
Keimzelle von Querdenken ist die Ortsgruppe in Stuttgart. Sie hat die Kennung 711 in Anlehnung an die Telefonvorwahl der Stadt. Querdenken tritt dort seit April 2020 öffentlich auf. Führender Kopf ist Michael Ballweg.
Die Website der Stuttgarter Gruppe offenbart ein Netzwerk von Querdenken-Ablegern in zahlreichen Städten und Gemeinden im gesamten Bundesgebiet. In einem „Initiativenverzeichnis“ findet sich dort eine Ortsgruppe aus Strausberg, welche von der Stuttgarter Zentrale unter der Kennung „334“ offenbar als einziger Regionalableger aus Brandenburg anerkannt wird. Weitere – demnach nicht von der Zentrale anerkannte – Ableger formierten sich darüber hinaus aber auch in Brandenburg an der Havel, in Oberhavel (Oranienburg und Gransee), im Barnim (Bernau und Eberswalde) und in Wittenberge. Die Kommunikation verläuft zu einem großen Teil über den privaten Messengerdienst Telegram. Ihr Hauptausdrucksmittel sind Versammlungen. Regelmäßige Veranstaltungen werden auf Ortsgruppenebene organisiert und finden oft zeitgleich in mehreren Städten statt. Die Teilnehmerzahl in Brandenburg schwankt zwischen wenigen Dutzend bis zu mehreren Hundert Menschen.
Einen deutlich höheren Zuspruch erreicht Querdenken jedoch bei Großveranstaltungen mit bundesweiter Reichweite. Dorthin mobilisieren die Ortsgruppen gemeinsam. Das Mobilisierungspotenzial liegt dann im fünfstelligen Bereich. Mobilisierend wirkt bei diesen Versammlungen die Ausgestaltung als Event. Den Teilnehmenden wird eine vollständige Betreuung inklusive Bus-Shuttle, Catering, Bühnenshow und Merchandise-Shop geboten. Darüber hinaus haben die als Massenzusammenkunft ausgerichteten Querdenken-Versammlungen ein hohes Spannungspotenzial, weil Hygieneregeln kollektiv ignoriert werden – oft ohne rechtliche Konsequenzen.
Schnittmenge zu Reichsbürger*innen und extrem Rechten
Querdenken ist im Frühjahr 2020 im Kontext der bundesweiten „Hygienedemos“ während des ersten Lockdowns entstanden. Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens in der Corona-Pandemie war Anlass, gegen eine vermeintliche Abschaffung der Grundrechte und die angebliche Errichtung einer Diktatur zu protestieren.
Der Protest gegen die Infektionsschutzmaßnahmen wird im „Manifest“ von Querdenken als Forderung nach Aufhebung von scheinbaren Einschränkungen des Grundgesetzes (GG) formuliert. Ausdrücklichen Wert legt die Initiative dabei insbesondere auf die Artikel 1, 2, 4, 5, 7, 8, 11 und 13. Auffällig in dieser Aufzählung ist die Auslassung von Artikel 3, in dem die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und das Verbot von Diskriminierung wegen Geschlecht, Sprache, Religion oder Abstammung festgehalten ist.
Und noch etwas fällt auf: Querdenken fordert explizit die Umsetzung von Artikel 146, GG. Darin wird beschrieben, dass die Gültigkeit des Grundgesetzes nach der „Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands“ mit dem Beschluss einer neuen Verfassung beendet ist. Die deutsche Einheit war jedoch bereits mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 GG abgeschlossen. Die vehemente Forderung nach Umsetzung von Artikel 146 erinnert an Positionen der extremen Rechten und von Reichsbürgerinnen: Deutschland sei größer als die Bundesrepublik, das Grundgesetz sei nur ein vorübergehendes Provisorium, aber keine rechtmäßige Verfassung.
Im Visier des Verfassungsschutzes
Bestätigt wird dies durch den Landesverfassungsschutz Baden-Württemberg, der Querdenken eine Ausrichtung gegen die freiheitlich Grundordnung attestiert und die Initiative als rechtsextremen Verdachtsfall einstuft. Mehrere maßgebliche Akteur*innen ordnet die Behörde dem Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter zu. Gezielt würden verschwörungsideologische und antisemitische Inhalte mit Kritik an staatlichen Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vermengt.
Allerdings gibt es bisher keine bundesweit einheitliche Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden zur Querdenken-Initiative. Dem Verfassungsschutz in Brandenburg lägen zum Beispiel bisher keine hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte vor, heißt es, dass von dieser Initiative Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgingen.
Querdenken selbst distanziert sich zwar von „Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendem Gedankengut“. Allerdings bestätigen Nahaufnahmen von Veranstaltungen die Erkenntnisse des baden-württembergischen Verfassungsschutzes. Immer wieder werden dort antisemitische Verschwörungserzählungen wiedergegeben. Reichsbürger*innen marschieren bei Querdenken-Versammlungen mit schwarz-weiß-roten Fahnen auf und verbreiten ungestört ihre Ideologie.
Mitunter entwickeln sich daraus Szenen mit hoher Eigendynamik. Am 29. August 2020 versuchten beispielsweise mehrere Hundert Sympathisierende der Reichsbürger*innen-Bewegung, von einer Querdenken-Großversammlung aus spontan in den Bundestag einzudringen. Der propagandistisch intonierte „Sturm auf den Reichstag“ wurde jedoch von der Polizei unterbunden. Michael Ballweg distanzierte sich umgehend von der Aktion – allerdings wenig überzeugend. Denn im November 2020 nahmen der Querdenken-Kopf und weitere Mitstreitende an einem internen Arbeitstreffen mit Reichsbürgern im thüringischen Saalfeld teil. Das konspirative Meeting flog auf und wurde durch die Polizei aufgelöst, weil Anti-Corona-Maßnahmen nicht eingehalten wurden.
Deutliche Radikalisierung
Der Konflikt um die staatlichen Verordnungen im Umgang mit dem Corona-Virus erreichte im November 2020 einen neuen Höhepunkt. Anlass war die geplante Bundestagsabstimmung zu einem neuen Infektionsschutzgesetz. Gegner*innen des Gesetzentwurfes sahen darin ein „Ermächtigungsgesetz“. Im Internet zirkulierten Dutzende Protestaufrufe zu einer Großdemonstration. Unter dem Motto: „Ermächtigungsgesetz stoppen“ wurde auch unter Verwendung des Begriffes „Querdenken“ zu den Protesten mobilisiert.
Tatsächlich versammelten sich am 18. November 2020, dem Tag der Gesetzesverabschiedung, tausende Sympathisierende der Querdenken-Bewegung, aber auch Funktionär*innen extrem rechter Parteien, Hooligans, Neonazis und sonstige Rechtsextreme spontan in der Nähe des Bundestages in Berlin. Unter ihnen befanden sich etliche Personen aus Brandenburg. Wie üblich wurden die Hygieneregeln ignoriert. Darüber hinaus erfolgten aber auch Flaschen- und Steinwürfe gegen die Polizei. Die Spontandemonstration wurde schließlich mit Wasserwerfern aufgelöst, Dutzende Demonstrierende in Gewahrsam genommen.
Auch in Brandenburg kommt es bei Versammlungen von Sympathisierenden der Querdenken-Bewegung immer wieder zu Konfrontationen mit der Polizei, wenn auch nicht in den Dimensionen wie in Berlin. Die Auflösung von Veranstaltungen ist jedoch keine Seltenheit. Insbesondere bei kleineren Zusammenkünften machte die Polizei aufgrund von Verstößen gegen die Hygieneregeln von diesem Mittel Gebrauch, etwa in Wittenberge, Wittstock/Dosse sowie vereinzelt in Brandenburg an der Havel.
Querdenken in Brandenburg
Großversammlungen der Querdenken-Bewegung blieben in Brandenburg bisher weitgehend aus. Es fand lediglich eine größere Veranstaltung mit bundesweitem Charakter in Frankfurt (Oder) statt. Anmelder war keine lokale Querdenken-Ortsgruppe, sondern ein Ableger aus Duisburg. An der grenzübergreifenden Versammlung am 28. November 2020 beteiligten sich rund 800 Menschen, darunter etwa 150 Corona-Verharmloser_innen aus Polen.
Veranstaltungen des Brandenburger Querdenken-Ablegers in Strausberg zogen dagegen weniger Teilnehmende an. Ihre Zahl ist meist zweistellig und liegt deutlich unter 100.
Im Land Brandenburg steht die Querdenken-Bewegung in Konkurrenz zu weiteren losen Gruppierungen oder Organisationen mit ähnlichem programmatischen und aktionistischem Angebot. In Cottbus sind zum Beispiel die „Bürger für Bürgerrechte“ aktiv. Diese verfügen über enge Kontakte zur rechtsextremen Vereinigung Zukunft Heimat sowie zur AfD. Funktionär*innen beider Organisationen traten mehrfach als Redner*innen auf Versammlungen von „Bürger für Bürgerrechte“ auf.
In der Prignitz organisierten die Wählervereinigigung „Bürgerstimme für Pritzwalk“ und die lokale AfD gemeinsam mehrere Corona-Proteste. In Potsdam ist die Initiative „Eltern stehen auf“ aktiv.
Seit November 2020 scheint die Attraktivität des Labels „Querdenken“ nachzulassen. Die Brandenburger Regionalableger wechselten ihre Namen und benannten sich nach einem neuen Muster um: Aus „Querdenken 338 BRB“ in Brandenburg an der Havel wurde „Brandenburg steht auf“ und aus „Querdenken 330 Oberhavel“ in Oranienburg „Oberhavel steht auf – 330“. Am Charakter ihrer Versammlungen änderte sich jedoch nichts. Regierungsverordnungen in der Corona-Pandemie werden weiterhin infrage gestellt und Verstöße gegen Hygieneregeln als Protestform zelebriert. Auch Rechtsextreme werden bisher – trotz geäußerter Distanzierungen seitens einiger Veranstalter*innen – auf diesen Versammlungen geduldet.
Hardy Krüger