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„Schuld kann verjähren. Verantwortung verjährt nie.“
Gunter Fritsch, Landtagspräsident a.D., im Gespräch über die Bekämpfung des Antisemitismus und die Ergänzung des Artikel 7a der Landesverfassung Brandenburgs
Am 16. Juni hat der Brandenburger Landtag sich in erster Lesung für die Änderung der Verfassung ausgesprochen. Artikel 7a, der die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zum Staatsziel erklärt, soll um die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ergänzt werden. Die Politik greift damit Anregungen des Moses Mendelssohn Zentrums und der F.C. Flick Stiftung aus dem Jahr 2020 auf. Gunter Fritsch (SPD) war 2004 bis 2014 Präsident des Brandenburger Landtags und hat die Aufnahme von Artikel 7a in die Landesverfassung im Jahr 2013 mit auf den Weg gebracht. Er ist auch Mitglied des Aktionsbündnisses Brandenburg. Über die damalige und die gegenwärtige Debatte sprach mit Gunter Fritsch Frauke Büttner, Leiterin der Geschäftsstelle des Aktionsbündnisses Brandenburg.
Frauke Büttner: Herr Fritsch, in Artikel 7a der Landesverfassung heißt es: „Das Land schützt das friedliche Zusammenleben der Menschen und tritt der Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts entgegen.“ Welche Bedeutung hat die Ergänzung um die Frage des Antisemitismus?
Gunter Fritsch: Bei der Einführung von Artikel 7a ging es darum, rassistischen Gedanken entgegenzutreten. Die Wissenschaft ist inzwischen einhellig der Meinung, dass es Rassen im biologischen Sinne unter Menschen nicht gibt. Alle Menschen gehören der gleichen Rasse an. Das haben unsere Vorväter bereits bei der Verfassung des Grundgesetzes formuliert, indem sie in Artikel 1 geschrieben haben: Die Würde des Menschen ist unantastbar.Da wird nicht unterschieden zwischen schwarz, rot, gelb, weiß, braun, zwischen jüdisch, christlich, muslimisch. Alles Menschen, alle gleichberechtigt. Die jetzt diskutierte Erweiterung hat mit der Entwicklung in unserer Gesellschaft zu tun. Durch die steigende Zahl antisemitischer Vorfälle wurde es nötig, das Thema aufzugreifen und als Leitziel des Staates in die Verfassung einzubringen.
Haben Sie bereits bei der Verfassungsänderung 2013 über Antisemitismus diskutiert?
Ja, Antisemitismus wurde am Rande erwähnt, aber erschien damals noch nicht so dringlich wie heute. Ich begrüße es sehr, dass die F.C. Flick Stiftung, das Moses Mendelssohn Zentrum und das Abraham Geiger Kolleg mit diesem Vorhaben an die Politik herangetreten sind und es große Zustimmung findet.
Was bedeutet der Artikel für die Politik und in der Praxis?
Alles, was in der Verfassung steht, ist Rechtsrahmen für die praktische Politik, also zum Beispiel für die Gesetzgebung. Eine Gesetzgebung, die gegen dieses Ziel verstößt, ist nicht zulässig. Weiter hat die Politik dann die Möglichkeit, Gesetze zu beschließen, die dieses Staatsziel praktisch aufnehmen. Damit wird auch die Verfolgung und Bestrafung antisemitischer Vorfälle erleichtert. Es hat keiner mehr so leicht die Chance, sich rauszureden und zu sagen: Ach, das ist ja nur eine Meinungsäußerung. Nein, solch eine Meinung ist dann nicht zulässig.
Das heißt, es muss weiter an der Problematik gearbeitet werden?
Natürlich. Daran weiterzuarbeiten heißt nicht nur, Gesetze und Verordnungen zu verabschieden, sondern auch Einfluss auf die Meinungsbildung innerhalb der Bevölkerung zu nehmen. Das beginnt meiner Meinung nach bereits im Kindergartenalter, Stichwort Wertevermittlung. Ich erinnere mich an einen schönen alten deutschen Spruch, den meine Oma gerne zitiert hat: Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu. Das ist ein bisschen pauschal, aber allumfassend. Wenn ich diese Werte, diese Grundwerte, nicht schon im Kindesalter vermitteln kann, muss ich mich nicht wundern, wenn unter den Erwachsenen die Zahl derer zunimmt, die sich daran nicht hält.
Bei der sogenannten Anti-Rassismus Klausel hat Brandenburg eine Vorreiterrolle eingenommen. Inzwischen hat Sachsen-Anhalt seit dem letztem Jahr eine ähnliche Klausel in der Verfassung, in der der Antisemitismus auch angesprochen wird. In Thüringen hat eine Diskussion um die Änderung der Verfassung begonnen. Wieso wurde diese Debatte in Brandenburg schon vor acht Jahren geführt? Wer hat die Diskussion damals angestoßen?
Die Idee kam im Wesentlichen aus dem Landtag und von den Mitgliedern der entsprechenden Ausschüsse. Wir als Landtagspräsidium haben das Vorhaben sehr unterstützt. Für uns war nicht akzeptabel, jemanden verächtlich zu machen, als minderwertig zu betrachten, weil er sich in irgendeinem Punkt von uns Brandenburgern unterscheidet. Wir haben auch auf unsere Geschichte hingewiesen – mit meinem Geburtsjahr 1942 gehöre ich ja noch gerade so zur Kriegsgeneration. Sprüche über „minderwertige Menschen“ oder „nicht lebenswertes Leben“ wie im Dritten Reich gab es damals noch. Das hat stark zu unserer Ansicht geführt, dass wir so etwas nicht noch einmal erleben wollen, dass wir etwas unternehmen, eine Formulierung finden müssen, die solche Gedanken als falsch darstellt. Das ist dann auch mit großer Mehrheit gelungen.
Hat der Landtag darüber diskutiert, weil auch aus der Zivilgesellschaft Impulse gekommen sind?
Natürlich, das ist ein Thema, was neben dem Landtag auch die Zivilbevölkerung interessiert. Nicht alle Gruppen gleichermaßen, aber das Aktionsbündnis war ein Vertreter, der uns unterstützt und diese Meinung auch zu seiner eigenen gemacht hat.
Dann gab es ja noch den inzwischen leider verstorbenen Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg, der sich sehr gegen Rechtsextremismus engagiert hat. Gab es mit ihm einen Austausch?
Ja, ich habe damals in Brandenburg an der Havel gewohnt und Erardo auch. Wir kannten uns sehr gut, waren eng befreundet und haben oft Diskussionen zu dem Problem geführt. Da er als Jurist das Talent hatte, juristisch korrekt zu formulieren, hat er uns in der Debatte sehr geholfen.
Artikel 7a ist also zustande gekommen, weil das Engagement verschiedener Seiten zusammenkam – der Zivilgesellschaft, der Politik und von Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg, der auch Mitglied des Aktionsbündnisses war. Wenn Sie jetzt Bilanz ziehen: Sind Sie zufrieden damit, wie die Anti-Rassismus Klausel gewirkt hat? Und wenn nicht, was müsste anders werden?
Das ist immer so eine Frage: Was wäre gewesen, wenn…? Wir gehen davon aus, dass unsere Gesellschaft in die richtige Richtung steuert. Ob sie weit genug in diese Richtung steuert, ist schon deutlich schwieriger zu beantworten. Eigentlich sind das Ziele für die Ewigkeit, an denen man ständig dranbleiben muss und die von Generation zu Generation wieder in die Bevölkerung getragen werden müssen. Eigenschaften wie Egoismus, Neid oder Rachsucht sterben ja nicht von einer Generation zur nächsten aus, sondern entstehen immer wieder aufs Neue. Dagegen anzugehen ist eine Daueraufgabe.
Was ist als früherer Landtagspräsident und als Mitglied des Aktionsbündnisses Brandenburg Ihre Botschaft in der Diskussion, den Antisemitismus als Staatsziel in die Verfassung einzuschreiben?
Es gibt einen Spruch, der nach dem Dritten Reich häufiger diskutiert wurde, in Vergessenheit geraten und in letzter Zeit wieder aufgetaucht ist: „Schuld kann verjähren. Verantwortung verjährt nie.“ Ich glaube, das ist die wichtigste Botschaft, die wir jedem Menschen mitgeben müssen: Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft liegt bei jedem Einzelnen. Und diese Erweiterung der Verfassung macht deutlich, wo ein ganz besonderer Punkt der Verantwortung in unserer Zeit liegt.
Vielen Dank für das Gespräch!