Faktencheck: Sachleistungen
Seit dem Sommer 2023 wird öffentlich vermehrt die Forderung erhoben, Asylsuchenden vor allem Sachleistungen oder eingeschränkt nutzbare Geldkarten auszugeben statt ihnen Geld auszuzahlen. Was sind die Hintergründe und wie ist die rechtliche Lage?
Im Juli 2023 forderte der brandenburgische CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzende Jan Redmann, Geflüchteten vorwiegend Sachleistungen auszugeben. Auch in der SPD in Brandenburg hat sich die Debatte zu den Sachleistungen für Asylsuchende verschoben. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) erklärte im Oktober 2023 gegenüber dem Tagesspiegel: „Um die Anreize zur Migration nach Deutschland zumindest etwas zu verringern, halte ich die Umstellung von Barzahlungen auf Sachleistungen für einen ersten geeigneten Schritt.“ Nur zwölf Jahre zuvor, im Sommer 2011, hatte sich der brandenburgische Sozialminister Günter Baaske (SPD) ausdrücklich für Bar- statt Sachleistungen ausgesprochen, „denn die Gutscheine erzeugen hohen Verwaltungsaufwand und sind für die Betroffenen völlig ungeeignet und auch diskriminierend“.
Tatsächlich können Behörden bereits jetzt vorrangig auf Sachleistungen für Asylsuchende setzen. Das 1993 in Kraft getretene Asylbewerberleistungsgesetz sieht diese Möglichkeit seit jeher vor (siehe § 3 AsylbLG). In den von den Bundesländern betriebenen Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen Asylsuchende zum Teil bis zu 18 Monate bleiben müssen, werden schon jetzt vorwiegend Sachleistungen ausgegeben, etwa in Form von Verpflegung. Auch auf kommunaler Ebene besteht rein rechtlich die Möglichkeit, bevorzugt Sachleistungen auszugeben. Das gilt insbesondere bei einer Unterbringung von Asylsuchenden in einer Gemeinschaftsunterkunft.
Hoher Bedarf an personellen und finanziellen Mitteln
Allerdings ist damit auch ein hoher Aufwand verbunden: Essen muss gekocht und ausgegeben werden, Kleidung, Dinge des täglichen Gebrauchs und Einrichtungsgegenstände müssen beschafft und gelagert werden. All das ist teurer, weil für diese Aufgaben zusätzliche Arbeitszeit durch die Mitarbeiter*innen der Kommunen oder der Dienstleister*innen eingeplant werden muss. Auch bei Geldkarten oder Gutscheinsystem müssen Verwaltungen mit Geschäften einzeln aushandeln, welche Produkte gekauft werden dürfen. Anschließend muss dann abgerechnet werden. Schon der hohe Aufwand und die höheren Kosten dürften maßgebliche Gründe sein, warum die meisten Bundesländer und die meisten Kommunen nicht auf Sachleistungen setzen. In Brandenburg hatten bis 2011 fast alle Landkreise die Praxis der Sachleistungen abgeschafft.
Einschränkung der Selbstbestimmung
Zudem bedeuten Sachleistungen für die Betroffenen eine Entmündigung und führen zu vielen Folgeproblemen: Es ist zum Beispiel nicht möglich, selbstbestimmt zu kochen – ein großes Problem für Menschen mit Allergien und Unverträglichkeiten. Wer einen Behördentermin hat oder an einem Deutschkurs teilnimmt und deshalb zur Essensausgabe nicht anwesend sein kann, geht leer aus und kann sich ohne eigenes Geld nicht selbst versorgen. Auch Fahrkarten oder Telefonkarten können nicht bezahlt werden. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl urteilt: „Das Verwehren von Geld entzieht den Menschen ihre Autonomie – sie verlieren alltägliche und eigentlich selbstverständliche Handlungsmöglichkeiten.“ Ende Mai 2023 forderten mehr als 200 Organisationen – Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und der Flüchtlingsrat Brandenburg, Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie und der Paritätische sowie Anwält*innenverbände – die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes und die Gleichbehandlung aller Menschen in Deutschland nach den Regeln des Sozialgesetzbuchs.
Sachleistungen als vermeintliche Abschreckung
Verfassungsrechtlich bedenklich wäre zudem die Erwägung, Leistungen deshalb einzuschränken, damit weniger Menschen nach Deutschland fliehen. Dem hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2012 eine Absage erteilt und geurteilt: „Auch migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“
Mit anderen Worten: Lebensnotwendige Leistungen an Schutzsuchende dürfen nicht beliebig eingeschränkt werden, nur weil es das politische Ziel ist, Menschen von der Flucht nach Deutschland abzuhalten.
Ohnehin weisen zahlreiche wissenschaftliche Studien nach, dass die Art oder Höhe sozialer Leistungen an einem bestimmten Ort für Schutzsuchende nicht der entscheidende Faktor für das Ziel ihrer Flucht ist. In welches Land Menschen fliehen, ist – logistische und organisatorische Fragen einmal ausgeklammert – vielmehr die Folge von komplexen individuellen Entscheidungsprozessen, bei denen Sprache, persönliche Netzwerke sowie die Rechtsstaatlichkeit und Humanität des Aufnahmelandes die größte Rolle spielen (siehe auch die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013 herausgegebene Studie). Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat angesichts der Debatte im Oktober 2023 zahlreiche Forscher*innen befragt, ob es eindeutige Belege für die Behauptung gibt, der deutsche Sozialstaat ziehe Asylsuchende an. Auch hier ist das Ergebnis, dass Sozialleistungen für Asylsuchende bei der Flucht nach Deutschland keine signifikante Rolle spielen. „Derzeit werden also oft Zusammenhänge behauptet, für die es keine ausreichenden Belege gibt. Und daraus werden dann Maßnahmen abgeleitet“, so die Zeitung.