Verschwörungsmythen: Konflikte an der Kaffeetafel
Die Beratungsstelle Mitmensch hilft bei Konflikten im Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen in Brandenburg. Wir sprachen mit Steffi Bahro und Janek Buchheim über die Herausforderungen ihrer Arbeit und darüber, was sich nach der Corona-Pandemie verändert hat.
Mitmensch ist im Herbst 2021 an den Start gegangen. Wie wurde das Projekt aufgenommen?
Janek Buchheim: Anfang November 2021 haben wir an der Landespressekonferenz zum Thema Verschwörungserzählungen teilgenommen. Daraufhin wurde überregional in den Medien berichtet. Einen Tag später kamen dann die ersten Anfragen. Das fiel damals in die Vorweihnachtszeit mitten in der Pandemie. Es gab konkreten Bedarf bei den Menschen, das passte zeitlich gut zusammen.
Steffi Bahro: Hinzu kam, dass wir durch unseren Träger mit anderen Projekten gut vernetzt sind, die in Brandenburg schon seit Jahrzehnten aktiv sind. Seien es die Mobilen Beratungsteams oder die Kolleg*innen von der RAA, die durch ihre regionalen Teams geholfen haben, unser Angebot in den Landkreisen bekannter zu machen.
War es eine besondere Herausforderung, in der Vorweihnachtszeit 2021 während der Pandemie mit dieser Arbeit zu beginnen?
S.B: An Weihnachten wünschen sich viele, dass alles harmonisch abläuft oder vorhandene Spannungen zumindest nicht hochgekocht werden. In der Pandemie kamen neue Fragen hinzu, und es mussten Entscheidungen mit hohem Konfliktpotenzial getroffen werden: Wie gehen wir mit Tests um? Wie viele Leute können überhaupt zusammenkommen? Wer ist hier geimpft? Und wer darf das neugeborene Baby auf den Arm nehmen? Bei manchen hat sich schon in den Gesprächen per Telefon oder über WhatsApp abgezeichnet, dass es zu schwierigen Situationen kommen könnte. Wie muss ich mich positionieren, wenn diese Konflikte an der Kaffeetafel hochkommen?
J.B.: Es gab relativ viele Anfragen, die weniger mit Verschwörungserzählungen im Zusammenhang standen, als vielmehr Konfliktthemen waren. Da ging es um die Frage: Wie verhandeln wir das jetzt in der Familie? Heute ist die Situation eine andere. Die meisten haben einen Modus gefunden oder sich sogar distanziert von den entsprechenden Familienmitgliedern.
Betreffen alle Anfragen, die ihr bekommt, familiäre Kontexte?
S.B.: Ja, die meisten schon. Wir haben aber auch viele sozialpädagogische Fachkräfte, die verunsichert und teilweise überfordert oder überlastet sind. Da geht darum, sich auf solche Situationen im Rahmen der eigenen Kapazitäten vorzubereiten. Dazu bieten wir auch Weiterbildungen an.
Unter welchen Voraussetzungen kann man diese Menschen integrieren? Und wo zieht man eine Grenze?
Wenn es in beruflichen Netzwerken oder in Vereinsstrukturen Menschen gibt, die plötzlich verschwörungsideologisch abdriften, stellt sich die Frage, wie man mit diesen Leuten, die man zum Teil seit Jahren kennt, umgeht. Unter welchen Voraussetzungen kann man diese Menschen integrieren? Und wo zieht man eine Grenze?
J.B.: Wir beraten im persönlichen Nahfeld. Für manche ist das aber nicht die Familie, sondern beispielsweise die Nachbar*innen im Dorf, mit denen Freundschaften entstanden sind, die dann entzweien. Bei unserer Beratung muss immer eine Beziehungsebene vorhanden sein. Es geht nicht um den Konflikt mit der Verkäuferin beim Bäcker, die man jeden Tag sieht, aber mit der man ansonsten nichts zu tun hat. Es betrifft also Menschen, mit denen man in irgend einer Art und Weise emotional verbunden ist.
Bei Verschwörungserzählungen gibt es ja eine große Bandbreite. Lassen sich bei den Anfragen an euch Kernthemen ausmachen?
J.B.: Konfliktthemen, wie die aus der Vorweihnachtszeit 2021, gibt es eigentlich kaum noch. Mittlerweile haben die Anfragen hauptsächlich einen verschwörungserzählerischen Problemfokus. Trotzdem ist der Corona-Komplex immer noch zentral. Im Zuge der Pandemie traten Vorstellungen massiv zu Tage, die zum Teil vorher schon vorhanden waren, und wurden zu einem familiären Problem.
Es ist wichtig, einen Umgang zu finden, unabhängig davon, was die Angehörigen erzählen.
Eine inhaltliche Auseinandersetzung funktioniert da nur in den seltensten Fällen. Vielmehr ist es wichtig, einen Umgang zu finden, unabhängig davon, was die Angehörigen erzählen. Es geht also weniger um Krieg in der Ukraine, Energiekrise oder Klimawandel, sondern um Mechanismen und Werkzeuge, die einem im Umgang mit der Person helfen.
S.B.: Themen können dabei konfliktverstärkend wirkend, das war bei Corona so und das ist jetzt bei Pro-Putin-Verschwörungserzählungen ähnlich. Auch hier stellt sich oft die Frage: Spricht man gewisse Themen an, wenn bestimmte Angehörige dabei sind oder lieber nicht? Und wenn man sie anspricht, mit welchem Ziel? Im Mittelpunkt steht dabei oft, andere Angehörige davor zu schützen, dass sie sich verschwörungideologisch beeinflussen lassen. Da kann es wichtig sein, Desinformationen richtigzustellen und eine eigene Perspektive einzubringen. In der Beratung geht es in solchen Fällen auch um Empowerment. Wenn man in der Beziehung eben immer noch das Kind ist, das nach Hause kommt, obwohl man schon längst erwachsen ist, ist es manchmal gar nicht so leicht, überhaupt ernst genommen zu werden.
Der Krieg in der Ukraine spielt also inhaltlich schon eine stärkere Rolle. Und wie ist es zum Beispiel mit dem Thema Klimawandel?
J.B.: Aus unserer Beratung kann ich nicht handfest behaupten, dass alle, die vorher glaubten, die Pandemie sei der große Plan zur Ausrottung der Menschheit, jetzt automatisch rüberschwenken zu anderen Themen. Es gibt sicherlich welche, die das tun, weil es für sie Teil ihrer Welterklärung ist, immer alles in Verschwörungen zu packen. Aber anderen geht das vielleicht auch zu weit. Es ist allgemein zu beobachten, dass manche Menschen, die sich zu Pandemiezeiten dem Verschwörungsglauben zugewandt haben, dort eine neue soziale Gruppe gefunden haben. Ob diese Menschen jetzt zum Beispiel die Verschwörungserzählungen zum Klimawandel aus dem Internet internalisiert haben, kann ich nicht sagen. Was es gibt, ist ein gemeinschaftliches Erleben von „Wir als Widerstand gegen die Mächtigen da oben“. Da werden Themen beliebig ausgetauscht. Hauptsache, es geht irgendwie gegen „das Establishment“ und gegen die demokratische Struktur.
Wenn ihr auf die Zeit seit Ende 2021 zurückblickt: Hat sich in eurer Praxis etwas verändert? Oder habt ihr alles so umgesetzt, wie ihr euch das zu Anfang überlegt hattet?
S.B.: Wir haben eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen, denn für manche erfüllt die Einzelberatung allein nicht ihre Bedürfnisse. Das sind oft Menschen, die sich sehr alleine fühlen, weil sie vielleicht die einzigen in der Familie sind, die nicht an Verschwörungserzählungen glauben. Dann kann es helfen, sich mit Menschen zu verständigen, die das verstehen und nachvollziehen können, wie schwierig das ist. Viele Menschen, die nicht davon betroffen sind, geben die Rückmeldung: Na, da hätte ich schon längst den Kontakt abgebrochen. Das sagt sich leicht. Aber manche denken: Ich habe nur die eine Mutter, den einen Vater, den einen Bruder und ich wünsche mir eine Beziehung. Dafür findet man eher in der Selbsthilfegruppe Verständnis und kann sich darüber austauschen, was funktioniert und was nicht.
Wie funktioniert eure Selbsthilfegruppe denn in einem Flächenland wie Brandenburg?
J.B.: Sie war von Anfang an als Online-Gruppe konzipiert. Ich war zunächst skeptisch, aber das hat sich schnell gelegt. Es ist eine richtige Selbsthilfegruppe, manchmal als Gruppenberatung, manchmal als Gruppeninput, je nachdem was gerade wichtig ist. Sie ist relativ stabil bei sechs Teilnehmenden und findet alle vier Wochen statt. Das ist für einen Online-Rahmen eine gut handhabbare Größe und die Rückmeldungen sind durchweg positiv.
Hat sich in der Zeit eures Bestehens etwas an eurer Praxis verändert?
S.B.: Wir sind noch dabei, das Angebot zu erweitern. Bisher haben wir an externe Mediator*innen verwiesen, aber nun können wir das selbst anbieten. Inzwischen bieten wir auch eine Distanzierungs- und Ausstiegsberatung an. Das bezieht sich auf die seltenen Fälle, bei denen verschwörungsideologisch beeinflusste Menschen merken, dass ihnen diese Art von Input mental nicht guttut und ihre Beziehungen belastet. Und es ist auch ein Angebot für jene, die sich blauäugig in verfassungsfeindliche Gruppierungen wie die Reichsbürgersekte „Königreich Deutschland“ verstrickt haben, sich neu orientieren wollen und Unterstützung bei einem Neuanfang brauchen.
J.B.: Generell kann man sagen, dass wir unser Angebot die ganze Zeit weiterentwickeln, weil sich auch dieser ganze Problemkomplex ständig verändert. Wir sind alle noch dabei, das Feld zu entdecken und festzustellen, was die Menschen brauchen. Wir sind bundesweit mit den Beratungsstellen vernetzt. Die Einschätzung ist tendenziell die, dass die Zahl der Anfragen ein bisschen abnimmt, aber die Beratungskontexte, die längerfristig begleitet werden, intensiver sind. Viele Menschen haben einen Umgang gefunden mit den kleinen Konfliktthemen. Aber mit den Verschwörungsgläubigen, die dabeigeblieben sind, sind die Kontexte verschärfter geworden, verhärtet, konflikthafter. Deswegen haben wir unser Angebot der Einzel- oder Gruppenberatung ein bisschen modifiziert. Mit der Mediation haben wir eine neue Möglichkeit, Konflikte zu bearbeiten.
Aber ihr als Team habt euren Weg gefunden?
J.B.: Obwohl wir unterschiedliche Herangehensweisen haben, hat das bisher gut funktioniert. Dass wir zu zweit beraten, ist eine große Stärke. Wir versuchen, in den Beratungsgesprächen unsere unterschiedlichen Perspektiven deutlich zu machen, damit die Beratungsnehmenden auch merken, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, wie man einen Konflikt betrachten und bearbeiten kann.
Habt ihr denn einen oder zwei ultimative Tipps für Leute, die sich mit einer Konfliktsituation konfrontiert sehen, weil sie zum Beispiel einen schwierigen Besuch bei Verwandten vor sich haben?
S.B.: Es ist wichtig, sich selbst nicht zu überfordern. Zum Beispiel mit dem Anspruch, dass man die Verantwortung dafür hat, die andere Person zu retten oder aus dieser Weltsicht, aus einer bestimmten Community rauszuholen. Sich also nicht unrealistische Ziele setzen, bei denen Frustrationen vorprogrammiert sind. Bevor man jemanden als verrückt abstempelt, weil das alles total irrational erscheint, kann man erst mal gucken, an welcher Stelle man vielleicht selber auch irrationale Überzeugungen hat und warum. Dadurch wird man automatisch empathischer.
Wir versuchen immer, das Verständnis zu verbessern. Wie ist jemand reingekommen in diesen Verschwörungsglauben?
In bestimmten Diskussionen ist es sinnvoll, nicht gleich eskalierend und vorwurfsvoll zu reagieren. Wir versuchen immer, das Verständnis zu verbessern. Wie ist jemand reingekommen in diesen Verschwörungsglauben? Was waren die Auslöser dafür? Und man muss unterscheiden lernen zwischen Verschwörungserzählung und Desinformation. Nicht jede Falschinformation, die mit einer bewussten Absicht verbreitet wird und dann an der Kaffeetafel kolportiert wird, ist gleich der zentrale Beweis dafür ist, dass die Person komplett in den Verschwörungsglauben abgedriftet ist.
J.B.: Empathie finde ich wichtig. Das klingt erst mal komisch, denn es fällt oft schwer, jemandem empathisch zu begegnen, wenn sehr krude und auch verachtende Äußerungen fallen. Da ist auch eine rote Linie wichtig. Wenn es menschenverachtend oder antisemitisch wird, kann man dem nicht mit Empathie begegnen, das ist klar. Aber ich würde sagen, das ist eher ein Extremfall. Wichtig ist, eine Grundhaltung zu entwickeln, die versucht zu begreifen, dass dahinter ein Mechanismus steckt für die Person. Dass sie das nicht aus einer Laune heraus macht, aus einer Verletzungsabsicht, sondern dass es eben eine gewisse Funktion erfüllt, die manchmal ein Schutz ist gegenüber dieser Überlastung, die dabei empfunden wird, der Weltsituation zu begegnen. Zu verstehen: Okay, der macht das nicht, um mich zu ärgern. Und ich springe jetzt nicht auf jede Erzählung drauf und versuche, das inhaltlich zu widerlegen, sondern ich versuche, herauszufinden, was für ein Bedürfnis oder was für eine Unsicherheit eigentlich dahintersteht. Wie kann ich als vertraute Person helfen,damit mein Gegenüber sein Seelenheil nicht in dieser Gruppe oder in diesen Erzählungen sucht? Diese Grundhaltung versuchen wir in den Gesprächen herausarbeiten, weg von einer Problemzentrierung und der inhaltlichen Auseinandersetzung. Die ist oft der erste Impuls, der aber in der Regel nicht hilfreich ist. Zielführender ist es zu versuchen, den Menschen zu sehen, der er eigentlich ist oder der er vielleicht einmal war. Das ist ein sehr schwerer Schritt, aber der allerwichtigste.
MITMENSCH – Beratung bei Konflikten im Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen.