„Hier versagt ein ganzer Staatenbund“
Seit Monaten versuchen Geflüchtete, über Belarus in die Europäische Union zu kommen. Viele scheitern jedoch an der Grenze nach Polen oder bleiben in einer sogenannten roten Zone im Grenzgebiet stecken. Nur wenige schaffen es, nach Brandenburg zu gelangen.
Mindestens 13 Menschen starben bereits. Anwält*innen, Menschenrechtsorganisationen und anderen Helfer*innen wird der Zugang in die Sperrzone verwehrt. Wir sprachen im Dezember 2021 mit Axel Grafmanns über das Engagement gegen diese Zustände. Er ist geschäftsführender Vorstand des Brandenburger Vereins „Wir packenʼs an“.
Herr Grafmanns, Sie waren vor kurzem vor Ort. Wo waren Sie genau?
Axel Grafmanns: In den letzten sechs Wochen war ich drei Mal in Polen, an der Grenze zu Belarus in der Nähe von Białystok. Von dort aus sind wir direkt an die Sperrzone gefahren. Wir haben Hilfsgüter gebracht, Aktivist*innen und lokale Anwohner*innen begleitet und mit Geflüchteten gesprochen.
Man muss es leider so sagen: Die Menschenrechtssituation ist grausam. Wir haben Menschen getroffen, die wiederholt versucht hatten, über die Grenze zu kommen. Sie waren mehrfach von Push-Backs betroffen, also dem gewaltsamen Zurückdrängen über die Grenze. Da war zum Beispiel eine Gruppe von drei syrischen Männern im Wald. Einer von ihnen hatte einen gebrochenen Finger, ein anderer hatte Diabetes, was in dieser Situation kaum zu behandeln ist. Sie befanden sich in einem miserablen Zustand, waren unterversorgt, hatten geschwollene Füße und überall Wunden. Sie berichteten davon, auf der belarussischen Seite verprügelt worden zu sein. Ähnliche Berichte hörten wir auch über polnische Polizist*innen. Mittlerweile herrschen in der Region Minusgrade, und es liegt Schnee.
Wenn ich die Menschenrechtserklärung durchlese, wenn ich die Genfer Flüchtlingskonvention durchlese, wenn ich Europarecht durchlese, dann steht dort nirgends irgendetwas über Fluchtwege. Da steht nicht: Du darfst kein Flugzeug nehmen, kein Transportmittel nehmen. Da steht drin: Du hast ein individuelles Recht auf Asyl, das geprüft wird. Und dieses Recht wird aktuell massiv verletzt.
Im Mittelpunkt der Debatte zu diesem Thema steht also vor allem die Grenzsicherung?
Ja, aber nach internationalem Recht hat jede*r das Recht, einen Asylantrag zu stellen, der dann auch geprüft wird. Da geht es nicht darum, wie diese Person in das Land gekommen ist. Wir hatten Gespräche mit Politiker*innen, die behauptet haben, das seien ja gar keine richtigen Geflüchteten. Doch, das sind sie! Sie haben halt nur ein Flugzeug genommen.
Das ist für mich ein total legitimer Grund: ein besseres Leben für seine Kinder zu wollen.
Einer der Männer im Wald sagte: „Ich mach das nicht für mich, ich mache das für meine Kinder. Ich komme aus Damaskus, dort sind Bomben gefallen, da kann man nicht leben.“ Das ist für mich ein total legitimer Grund: ein besseres Leben für seine Kinder zu wollen.
Ich finde es auch wichtig, mal auf die Sprache zu achten. Es wird oft von Erpressung gesprochen. Welche Erpressung soll denn das sein, wenn da so ein paar schlecht ernährte, traumatisierte Menschen mit gebrochenen Knochen im Wald hocken? Welche Erpressung gegenüber einem reichen Kontinent ist denn das? Oder es wird von Invasion gesprochen, als handele es sich hier um einen militärischen Überfall. Wir reden von ein paar Tausend Menschen.
Wir müssen reflektieren, dass wir eine Sprache benutzen, die vor Jahren Rechtsradikale benutzt haben. Es ist wichtig zu sagen: Nein, da geht es nicht um Grenzschutz, das ist eine Abwehr, und da geht es nicht um Erpressung. Es ist purer Rassismus, wenn man sagt, wir nehmen die Leute nicht auf.
Ihre Organisation „Wir packenʼs an“ ist von Berlin und Brandenburg aus aktiv, mit Sitz in Bad Freienwalde. Was kann tatsächlich getan werden, um die Menschen zu unterstützen?
Wir haben uns im Winter 2019/2020 gegründet. Wir kamen alle aus dem Bereich der Seenotrettungsorganisation. Die Idee war zunächst, Hilfe zu leisten in den Elendslagern auf den Ägäischen Inseln Griechenlands. Wir waren uns unsicher, ob es aus Brandenburg überhaupt möglich ist, einen Truck mit Hilfsgütern dort hinzuschicken. Und dann gab es so viel Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, dass aus einem Truck vier Trucks wurden.
Im Februar gründeten wir den Verein, dann kam Corona. Wir haben eine Klinik auf der Insel Chios finanziert, eine Corona-Klinik, um die Menschen adäquat gesundheitlich versorgen zu können. Wir hatten bei der letzten Wintersammelaktion ursprünglich geplant, vier große Trucks zu schicken, aus denen dann zwölf wurden. Und so ging es immer weiter. Es war eine unheimlich dynamische Entwicklung.
Eigentlich hatten wir als Verein beschlossen, kein neues Einsatzgebiet hinzu zu nehmen, wir sind weit über dem Limit, was eine kleine Organisation so leisten kann. Aber dann ist es zu dieser Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus gekommen, und wir haben eine Diskussion gestartet, ob wir nicht doch etwas machen sollten. Unser Vereinssitz in Bad Freienwalde ist nur zehn Autominuten vor der polnischen Grenze entfernt, also legten wir los und nahmen Kontakt zu polnischen Gruppen auf, die neben der lokalen Bevölkerung vor Ort aktiv sind. Besonders eng ist der Kontakt zur Grupa Granica, einem Bündnis aus 14 Gruppen und zu Ocalenie, einer kleinen Stiftung. Beide sind sehr professionell organisiert und leisten Nothilfe an der Sperrzone.
Und was wird vor Ort besonders benötigt?
Die Menschen dort brauchen auf jeden Fall keine Second Hand Klamotten, die sammelt die polnische Bevölkerung selbst. Sie brauchen Powerbanks, neue Unterwäsche und beispielsweise synthetische Socken, die im Wald schnell trocknen und die gekauft werden müssen. Aufgrund der großen Spendenbereitschaft konnten wir all das beschaffen.
Als ich das erste Mal dort war, habe ich gefragt: „Wie können wir euch unterstützen?“ Und da kam sofort die Antwort: „Bitte baut politischen Druck auf.“ Das versuchen wir hier in Deutschland durch eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit. Es gab die Aktion am 28. November 2021 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin, wo 6.000 grüne Lichter aufgestellt wurden, und es gibt viel Medienarbeit und Demonstrationen.
Es gab auch eine Bus-Aktion …
Ja, die war durchaus provokant angelegt. Es gab eine offizielle Anfrage an das Bundesinnenministerium, ob der Bus nach Lieferung der Hilfsgüter im Wert von 10.000 Euro auf der Rückreise Menschen auf einem sicheren Weg nach Deutschland bringen kann – als Zeichen der europäischen Solidarität. Wir wollten zeigen, dass es ziemlich einfach ist, dort hinzufahren. Polen ist unser Nachbarland. Die Menschen müssten sich nicht tagelang die Füße auf dem Weg durch den Wald wund laufen. Eine Frau hatte sich tagelang im Wasser versteckt, jetzt liegt sie auf der Intensivstation. Es ist möglich, daran etwas zu ändern. Man kann einfach den Bus schicken und die Leute herbringen.
Jeder Transport ist gleichzeitig ein Protestschrei. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Menschen an der Grenze zu versorgen, es ist eine staatliche Aufgabe. Und es ist klar völkerrechtlich definiert, was in Situationen wie dieser zu passieren hat: eine adäquate Gesundheitsversorgung, eine Prüfung auf Asyl, ein Folterverbot und so weiter. Wir wollten mit dieser Bus-Aktion darauf aufmerksam machen, wie leicht es wäre zu helfen und darauf, dass hier ein ganzer Staatenverbund versagt.
Wir haben gehört, dass viele Hilfsgüter gar nicht mehr in diese sogenannte rote Zone gelangen. Gelingt es überhaupt, die Menschen dort mit dem Nötigsten zu versorgen?
Es gibt eine drei bis vier Kilometer breite Sperrzone an der 400 Kilometer langen Grenze. Erst wenn die Menschen dort durchgekommen sind, ist es legal, Erste Hilfe zu leisten. Die polnischen Gruppen gehen also in den Wald und suchen die Menschen.
Die Hilfsbereitschaft der polnischen Bevölkerung in der Sperrzone ist sehr beeindruckend. Es gibt wirklich viele, die sagen: So kann man nicht mit Menschen umgehen. Die Menschen, die in der Sperrzone leben, können dort natürlich rauskommen. Sie gehen in die Magazine, die wir beliefern, rüsten sich mit Schlafsäcken und allem möglichen aus, gehen wieder in die Sperrzone rein und leisten dann entsprechende Nothilfe.
Wir würden wünschen, dass der Fokus stärker auf den Menschen auf der Flucht läge.
In der Sperrzone selber sind über 20.000 Grenzschutzpolizist*innen und Militärs. Es gibt mittlerweile estnische Polizei, die dort mit Drohnen unterwegs ist. Es gibt die britische Polizei, die eine Grenzmauer baut. Es gibt offensichtlich sehr viel europäische Polizei-Solidarität. Wir würden wünschen, dass der Fokus stärker auf den Menschen auf der Flucht läge.
Neben Sachspenden ist es auch möglich, Geld zu spenden. Zum Beispiel ruft medico international zu Spenden für die juristische Unterstützung auf, bei Asylanträgen oder zur Aufklärung ungeklärter Todesfälle. Was kann da getan werden?
Wir haben eine Anwältin im Verein. Sie kümmert sich jetzt seit Wochen ehrenamtlich um einige richtig krasse Fälle. Da ist zum Beispiel ein Junge ohne Beine auf der Seite von Belarus, aus einer irakischen Familie. Die Familie hängt dort fest. Unsere Anwältin prüft gerade, ob es nicht möglich wäre, ein Visum für ihn zu beantragen, was leider sehr schlecht aussieht. Und wir überlegen, was wir tun können, damit er entsprechende Prothesen bekommt. Oder eine Frau, sie liegt im Krankenhaus mit starken epileptischen Anfällen und ist schwer traumatisiert. Da versucht unsere Anwältin, ein humanitäres Visum zu beantragen. Die Europäische Union hat das Recht auf Asyl in den baltischen Staaten und in Polen ausgesetzt. Was aber fehlt, sind ein Aufschrei und breiter gesellschaftlicher Protest. Der Koalitionsvertrag der Ampel steht in der Verpflichtung zu völkerrechtlichen Verbindungen. Und es gibt eine ganze Reihe einflussreicher Politiker*innen in Brandenburg. Die Außenministerin Annalena Baerbock wohnt in Brandenburg. Bundeskanzler Olaf Scholz hat seinen offiziellen Wohnsitz hier. Da könnten wir tätig werden, die Leute anschreiben, Protestaktionen organisieren, die Menschen im Wahlkreis mobilisieren. Das wäre auch aus Sicht der polnischen Aktivist*innen wirklich sinnvoll.
Was könnten die Forderungen an die Politik sein?
Wir haben einen Protestbrief an die Ampelkoalition geschrieben, zusammen mit verschiedenen Flüchtlingsräten und medico international. Die erste Forderung ist Rechtsstaatlichkeit. Es ist schon skurril, wenn die Zivilgesellschaft so etwas fordern muss: dass Gesetze eingehalten werden, dass das Asylrecht eingesetzt und Druck auf das EU-Mitglied Polen ausgeübt wird. Die Einflussmöglichkeiten auf Belarus sind ja tatsächlich begrenzt, aber bei dem EU-Mitglied Polen gibt es durchaus Möglichkeiten. Die Ampelkoalition darf es nicht mittragen, wenn Menschenrecht quasi ausgesetzt wird.
Die zweite Forderung ist ein humanitärer Korridor. Es kann nicht sein, dass ein Kontinent mit 450 Millionen Einwohner*innen sagt: Wir sind nicht in der Lage, ein paar Tausend Menschen aufzunehmen, die an dieser Grenze festsitzen. Ein deutsches Bundesland könnte ein solcher Korridor sein. Unsere dritte Forderung ist ein Zugang in diese Sperrzone für Journalist*innen, für Hilfsorganisationen, für Ärzt*innen.
Sie sagten, die Zusammenarbeit mit den polnischen NGOs und den anderen Akteuren vor Ort funktioniert gut. Können Sie das genauer erläutern?
Die Grupa Granica ist ein sehr heterogenes Bündnis von kirchlichen Gruppen bis hin zu linken Vereinigungen und Kulturschaffenden. Ich kenne es von Organisationen in anderen Ländern, dass es oft ein Gegeneinander gibt. Die Grupa Granica hat sich zusammengeschlossen und bündelt die Aufgaben, das finde ich total super. Ich habe gehört, dass psychologischer Support für die Aktivist*innen organisiert wird, die an der Grenze im Wald aktiv sind. Das ist wirklich wichtig, denn diese Helfer*innen sind ja nicht psychologisch geschult, und es kann durchaus sein, dass sie auf Leichen, schreiende Babys oder misshandelte Menschen treffen.
Vor Ort ist eine sehr faszinierende Mischung von Unterstützer*innen entstanden. Da treffen diese eher progressiv geprägten Aktivist*innen aus Warschau und Krakau auf die recht bodenständigen Menschen aus dem Grenzgebiet und tun sich zusammen. Und während wir von der Gastfreundschaft der Anwohner*innen beeindruckt waren, haben sie gesagt: „Mensch, ihr kommt aus Deutschland mit einem LKW hier in unser kleines Dorf.“
In der Gegend gab es viel jüdische Verfolgung während der Nazizeit. Eine Frau sagte mir, ihre Großmutter habe damals jüdische Menschen versteckt. Nun fühlt sie sich verpflichtet, den Menschen zu helfen, die im Wald sind. Als sie mir davon erzählte, hätte ich heulen können.
Und wie ist das hier in Deutschland? Aus welchen Regionen wird „Wir packenʼs an“ ganz konkret unterstützt?
Die meisten unserer Mitglieder kommen aus Brandenburg und Berlin. Aber mittlerweile haben wir auch bundesweit Mitglieder. Die Juristin wohnt zum Beispiel in der Nähe von Kiel. Wir haben tolle Leute in Nordrhein-Westfalen, die organisatorische Aufgaben übernehmen. Eine junge Frau aus Baden-Württemberg arbeitet im Social-Media-Team mit. Wir sind ein sehr offener Verein. Das ist bewusst so angelegt, denn wir wollen ein niedrigschwelliges Angebot zum Mitmachen bieten. Wir sind wie eine Plattform: Wer mitmachen will, kann das tun, solange sie oder er sich innerhalb von unserer Vereinssatzung bewegt.
Wenn ich diesen Satz höre: „Man kann doch nichts machen“, kann ich nur sagen: Wir sind das Gegenbeispiel dazu.
Wie man uns unterstützen kann? Geldspenden sind immer sehr willkommen. Denn damit sind wir am flexibelsten, können Dinge beschaffen, können schnell reagieren. Wir freuen uns auch über politischen Support, wenn eine Demonstration organisiert wird, wenn Briefe geschrieben werden. Und wir freuen uns über Sachspenden. Denn wir bringen die Sachen ja nicht nur an die Grenze zwischen Polen und Belarus. Wir sind nach wie vor in Bosnien sehr aktiv, wo die Situation sehr ähnlich ist. Es berichtet nur niemand darüber. Wir sind in Griechenland aktiv, speziell in Athen und auf den ägäischen Inseln. Wir suchen immer Leute, die in unserer Halle in Biesenthal Hilfsgüter sortieren und in Kisten verpacken, damit sie sofort transportiert werden können.
Wir haben den Anspruch, dass unsere Hilfsgüter sofort zum Einsatz kommen können. Es kann nicht sein, dass wir Sachen nach Griechenland schicken und dann müssen die Leute vor Ort anfangen zu sortieren. Es gibt sehr viel, was getan werden kann. Wenn ich diesen Satz höre: „Man kann doch nichts machen“, kann ich nur sagen: Wir sind das Gegenbeispiel dazu.
Wer die Arbeit der NGOs unterstützen will, kann hier spenden:
medico-Spendenaufruf: Für das Recht auf Rechte
(Interview: Dezember 2021)