© Simone Tetzlaff
Sachleistungen für Geflüchtete
Die Vergabe von Sachleistungen an Asylbewerber*innen anstatt von Bargeld wird aktuell intensiv diskutiert. Dabei ist das keine neue Idee.
Simone Tetzlaff arbeitet in einer Flüchtlingsberatungsstelle in Hennigsdorf, die zudem häufig Treffpunkt für verschiedene Anliegen der Menschen mit internationaler Familiengeschichte ist. Sie vertritt ebenfalls den Flüchtlingsrat in der Härtefallkommission des Landes Brandenburg.
Am 6. November 2023 wurde auf der Bund-Länder-Runde beschlossen, dass 2024 eine Bezahlkarte für Geflüchtete eingeführt werden soll. Wie ordnen Sie diesen Beschluss ein?
Es kommt mir so vor, als hätten wir das alles schon mal gehabt, wie eine Rolle rückwärts. Vor etwas mehr als zehn Jahren hat sich das Asylbewerberleistungsgesetz verändert und es wurde sich für mehr Gleichbehandlung und eben nicht für Sonderbehandlungen ausgesprochen. Und jetzt wird genau diese Sonderbehandlung wieder eingeführt. Das ist nicht nur diskriminierend, es ist auch ineffizient, teuer und entmündigend. Abgesehen davon wird dieses Sonderzahlungssystem ohnehin nicht funktionieren.
Es ist umstritten, ob die gegenwärtig diskutierte Ausgabe von Sachleistungen ohne Gesetzesänderung rechtlich möglich ist. Wie ist Ihre Einschätzung?
Da müssten wir in die Geschichte gehen. Bis 2015 gab es in dem Asylbewerberleistungsgesetz tatsächlich einen Passus, der besagte, dass vorrangig Sachleistungen gewährt werden sollen. Nachdem es aber viele Proteste und zivilgesellschaftliche Initiativen gab, entschied das Bundesverfassungsgericht 2012, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren ist, es also eine Schlechterstellung von Flüchtlingen im Rahmen der Sozialleistung nicht geben darf. Infolge dieser Entscheidung wurde das Asylbewerberleistungsgesetz geändert. Damit sollten dann vorrangig Geldleistungen gewährt werden. Mir ist daher nicht klar, auf welcher Grundlage jetzt diese Bezahlkarte einzuführen wäre. Ich gehe davon aus, dass das Asylbewerberleistungsgesetz dann sozusagen zurück geändert werden muss. 2011 setzte sich die Landesregierung noch bundesweit für die Abschaffung von Sachleistungen ein, da der Standpunkt vertreten wurde, dass diese die eigenständige Lebensgestaltung zu sehr einschränkt. Da waren wir also schon mal weiter. Was soll man sagen? Es ist einfach der totale Schwachsinn. Aber wir haben es eben momentan mit einer Debatte zu tun, die Vorurteile bedient und die Botschaft aussendet: Liebe Bevölkerung, macht euch keine Sorgen, wir stellen Flüchtlinge schlechter als euch. Sie bedient Rassismen, so wie es damals auch der Fall war.
Es gab im Jahr 2010 in Ihrem Landkreis Oberhavel intensive Debatten über das Gutscheinsystem. Sie haben schon angedeutet, dass Sie eine Art Déjà -vu haben. Wie haben Sie das damals erlebt?
Damals haben größere Teile der Bevölkerung verstanden, dass das Zahlen mit den Gutscheinen von den Geflüchteten als diskriminierend und ausgrenzend empfunden wurde. An der Supermarktkasse war gleich ein bestimmter Status erkennbar, zusätzlich mussten sich diejenigen, die diesen Gutschein in der Hand hatten, auch noch ausweisen. Das war ein irrer Kontrollvorgang für die Kassierer*innen. Ich habe mal versucht, mit einem Gutschein einzukaufen. Das ging überhaupt nicht. Es musste immer derjenige dabei sein, der die Gutscheine bekommen hatte. Außerdem waren die Gutscheine nur in bestimmten Geschäften gültig, und zwar nicht unbedingt in den kostengünstigsten. Wenn man Grundnahrungsmittel kaufen wollte, war es zum Teil gar nicht möglich, zu einem Discounter wie Aldi zu gehen, sondern man musste zu Edeka. Edeka ist aber viel teurer. Außerdem sind die Bedürfnisse von Menschen vielfältig. Mit den Gutscheinen konnte aber nicht alles gekauft werden. Ich weiß noch, dass Zigaretten ein Riesenthema waren. Es gibt nun mal immer Menschen, die rauchen.
„Wir wollten, dass dieses System der Benachteiligung, Ausgrenzung und Stigmatisierung abgeschafft wird.“
Es war damals auch nicht möglich, in bestimmten Geschäften einzukaufen, zum Beispiel in solchen, die Lebensmittel führen, die die Menschen aus ihren Herkunftsländern kennen. Auch das ist eine Entmündigung. Viele Flüchtlinge möchten die Verbindung zu ihrem Herkunftsland halten. Das heißt, sie telefonieren, also brauchen sie Aufladekarten. So etwas konnte mit diesen Gutscheinen aber nicht gekauft werden. Die Vergabe von Sachleistungen traf Familien am härtesten, die so nicht auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen konnten. Wir wollten, dass dieses System der Benachteiligung, Ausgrenzung und Stigmatisierung abgeschafft wird. Deswegen haben sich Einkaufsgemeinschaften gegründet: Wir sind zusammen mit den Geflüchteten in die Läden gegangen und haben mit den Gutscheinen bezahlt und ihnen hinterher das Bargeld zurückgegeben. Mit dem Bargeld konnten die Geflüchteten dann freier entscheiden, was sie kauften.
War es nicht auch so, dass der Kaufbetrag sehr genau auf die Gutscheine abgepasst werden musste, weil es nur eine bestimmte Menge oder gar kein Rückgeld gab?
Genau. Es gab zum Beispiel Gutscheine im Wert von fünf Euro. Wenn dann nur für zwei Euro eingekauft wurde, dann wurden die drei Euro Bargeld nicht ausgegeben – denn die Geflüchteten sollten ja kein Bargeld bekommen. Dadurch haben die Menschen von dem wenigen Geld, das sie überhaupt bekamen, auch noch Geld verloren. Deshalb haben sich solidarische Initiativen gegründet, die sich für die Abschaffung dieses Gutscheinsystems eingesetzt haben. Für sie galt der Grundsatz: Menschenrechte sind unteilbar. Das hat sich dann auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2012 niedergeschlagen. Heute, elf Jahre später, scheint das in bestimmten politischen Kreisen in Vergessenheit geraten zu sein. Ich wundere mich sehr, dass auch Teile der SPD, die sich damals für die Abschaffung des Gutscheinsystems eingesetzt haben, heute mit populistischen Äußerungen vortreten wie: Wir werden hier in Brandenburg die Bezahlkarte einführen. Die Menschen waren damals so unzufrieden mit dem Gutscheinsystem, dass es irgendwann einen Boykott dagegen gab.
Wo gab es den größten Protest und wie ist der Boykott damals ausgegangen?
Ich glaube, den größten Protest in Brandenburg gab es damals in Oberhavel, da dort das Gutscheinsystem am restriktivsten durchgeführt wurde. In anderen Landkreisen Brandenburgs war man schon längst dazu übergegangen, Bargeld auszuzahlen. Die dort Zuständigen hatten erkannt, dass es verwaltungsmäßig ein ungeheurer Aufwand ist. Der Boykott wurde von einer Initiative organisiert, die im Flüchtlingsheim Stolpe Süd begonnen hatte, gemeinsam mit URI, United against Racism and Isolation. Im Laufe der Zeit haben sich dann immer mehr Initiativen angeschlossen. Insofern war das vielleicht der Brandenburger Anteil für diese Bundesverfassungsgerichtsentscheidung. Allerdings hat sich die damalige Entscheidung nicht um die Form der Leistung gedreht, sondern eher um deren Höhe. Trotzdem ist der Beschluss, dass die Menschenwürde nicht migrationspolitisch relativierbar ist, ja sehr aktuell. Heute sind es genau diese Erwägungen: Wie können wir den Zuzug reduzieren? Wie können wir das Leben hier unattraktiv machen für Geflüchtete? Genau hier war das Bundesverfassungsgerichtsurteil sehr klar: Die Höhe und die Form von Sozialleistungen darf nicht dafür eingesetzt werden, um den Zuzug von Migrant*innen zu regulieren.
Was halten Sie denn von dem Argument, dass mit der Vergabe von Sachleistungen weniger Geflüchtete nach Deutschland kämen?
Soweit ich das beurteilen kann, ist es empirisch nachgewiesen, dass Bargeldauszahlungen keine Rolle bei der Wahl des Ziellandes spielen. Natürlich werden menschenrechtliche Standards berücksichtigt, aber vor allen Dingen auch Communities, familiäre Zusammenhänge. Danach entscheiden Flüchtlinge, wohin sie gerne gehen möchten. Die Gutscheine haben die Flüchtlinge damals auch nicht davon abgehalten, nach Deutschland zu kommen. Ich denke, wer wider besseren Wissens so etwas behauptet, tut dies, um rassistische Stimmungen zu bedienen.
Für viele Geflüchtete ist es wichtig, dass ihr Status nicht unklar bleibt; sie möchten arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen. Die Realität zeigt aber, dass der eigentlich für einen Übergang gedachte Status für eine lange Zeit andauern kann. Wie sind da Ihre Erfahrungen?
Einige Geflüchtete gehen ganz klar davon aus, dass sie schnell eine Arbeit aufnehmen, eine Ausbildung beginnen oder aber auch – und das wird aus eurozentrischer Sicht immer ausgeblendet – eventuell bald wieder zurückkehren können. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele nicht planen, ihr Leben lang hier zu bleiben. Viele syrische Flüchtlinge haben eher darauf hingearbeitet, möglichst schnell wieder zurückkehren zu können. Der Bürgerkrieg in Syrien dauert nun aber schon zwölf Jahre. Das ist Zeit, die die Menschen auch hier natürlich sinnvoll genutzt haben.
Es wird behauptet, das neue System könne verhindern, dass geflüchtete Menschen Geld an ihre Verwandten in ihrem Herkunftsland schicken. Ist das bei den niedrigen Geldleistungen überhaupt möglich? Was halten Sie grundsätzlich von der Idee, dass ein Sozialstaat darüber bestimmt, wofür Menschen ihr Geld ausgeben?
Flüchtlinge, die hier leben, möchten ihre Angehörigen im Herkunftsland finanziell unterstützen und tun dies auch. Die Not in den Ländern, aus denen sie zum Teil herkommen, ist so groß, dass sie nach ihren Möglichkeiten versuchen zu helfen. Ich finde, es steht uns einfach nicht zu, da einzugreifen. Wenn sich ein Mensch entscheidet, hier so bescheiden zu leben, dass er von dem Wenigen, was ihm zur Verfügung steht, noch einen kleinen Betrag nach Hause überweisen kann, dann soll er das machen dürfen. Das ist doch ein zutiefst soziales Verhalten! Das Argument hier ist auch häufig, es solle verhindert werden, dass sogenannte Schleuser*innen bezahlt würden. Warum brauchen die Menschen denn die Schleusung? Weil die Grenzen zu sind. Viele Flüchtlinge würden gerne auf die Inanspruchnahme von Schleuser*innen verzichten, wenn sie denn anders Schutz finden könnten. Aber das ist ja gar nicht möglich.
Die Frage der Sachleistung ist nur ein Aspekt in der aktuellen Debatte um verschärfte Abschiebungen, vermehrte Grenzkontrollen, eine mögliche Arbeitspflicht, aber auch die Abriegelung von EU-Außengrenzen. Was zeigen die Debatten ganz konkret aus Ihrer Sicht?
Sie sind rückwärts gerichtet, greifen auf Elemente zurück, die sich als ungeeignet erwiesen haben und bedienen Rassismen. Das halte ich für gefährlich. Vermutlich erhoffen sich die Parteien davon, der AfD die eine oder andere Stimme abzujagen. Aber wenn sie sich dabei auf AfD-Niveau begeben, ist das vollkommen daneben. Ich finde es wirklich erschreckend, in welche politische Kreise das mittlerweile geht. Sogar der Ministerpräsident und die Finanzministerin von Brandenburg wollen jetzt schon Vorreiter*innen für die Bezahlkarte werden. Was steckt da für eine politische Botschaft hinter? Dass Flüchtlinge für die Krise in den Kommunen verantwortlich sind?
„Durch die Einführung der Bezahlkarte wird keine Schule repariert und auch keine Kommune besser ausgestattet.“
Aber ich sage mal, durch die Einführung der Bezahlkarte wird keine Schule repariert und auch keine Kommune besser ausgestattet. Sinnvoller als im Zuzug von Geflüchteten die Ursache zu sehen, wäre es doch, die wahren Probleme zu benennen: die mangelnde soziale Ausstattung der Kommunen und sicherlich auch eine Überforderung der Kommunen. Wohnungsmangel gab es hier auch schon vorher.
Welche Folgen haben diese Debatten für die Menschen, die auf der Flucht sind?
Die Menschen sind verunsichert und denken, sie sind nicht gewollt. Auf der einen Seite wird gesagt: Wir brauchen dringend Menschen in den Pflegeheimen und in den Kitas. Auf der anderen Seite wird behauptet: Nein, wir wollen nicht, dass so viele hierher kommen. Wenn das Signal ist, dass Menschen hier nicht erwünscht sind, führt das natürlich dazu, dass diese Menschen in Regionen gehen, in denen das Klima etwas freundlicher ist. Das sehen wir ganz deutlich bei Fachkräften. Die Debatten schaffen insgesamt eine Stimmung, die nicht migrationsfreundlich ist.
Welche Politik im Umgang mit Geflüchteten wäre denn aus Ihrer Sicht sinnvoller?
Es sollte sofort damit aufgehört werden, Flüchtlinge zu Verantwortlichen der sozialen Krise in diesem Land zu machen. Stattdessen sollten wir wertschätzen, wie viele soziale und auch andere Arbeiten von Menschen übernommen werden, die ursprünglich als Flüchtlinge hier hergekommen sind. Das sind immens wichtige gesellschaftliche Beiträge. Diese Wertschätzung fehlt. Hinzukommt, dass durch die vielen Debatten ein Rassismus in diesem Land gefördert wird, der uns allen noch mal sehr auf die Füße fallen könnte. Grundsätzlich brauchen wir ein ganz anderes Aufnahmesystem. Zurzeit werden Geflüchtete, die ankommen, natürlich auch versorgt. Das ist gut so, sie haben ein Dach über dem Kopf. Aber alles andere, was den Weg in die Gesellschaft begleiten könnte, ist sehr prekär. Viele Initiativen werden nicht mehr finanziert. Zudem finden Flüchtlinge keine Wohnungen. Dabei haben sie eine viel bessere Ausgangsposition, wenn sie nicht in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, und können viel leichter Kontakte zu anderen Einwohner*innen einer Kommune knüpfen. All das wird zurzeit überhaupt nicht gefördert. Wir brauchen ein soziales Aufnahmesystem, das finanziell viel besser aufgestellt ist. Dann hätten wir eine ganz andere Situation.