© fab
Antisemitismus kommt in allen Schichten vor
Jüdische Menschen in Brandenburg erleben zunehmend Anfeindungen. Ein Gespräch mit der Fachstelle Antisemitismus Brandenburg.
Miriam Kohl und Felix Klepzig sind seit April 2022 in der Fachstelle Antisemitismus tätig. Miriam Kohl ist Ansprechpartnerin für jüdische Gemeinschaften und für Vernetzung und Veranstaltungen zuständig. Der Zeithistoriker Felix Klepzig beschäftigt sich mit dem Monitoring antisemitischer Vorfälle und ist für die Zusammenarbeit mit Politik, Polizei und Justiz zuständig.
Am 7. Oktober 2023 ermordeten Terroristen der Hamas in Israel mehr als 1.200 Menschen. Mehr als 200 weitere wurden in den Gaza-Streifen entführt. In Deutschland wird seitdem ein sprunghafter Anstieg antisemitischer Vorfälle beobachtet. Wie ist die Situation in Brandenburg?
Miriam Kohl: Diesen Trend können wir auch anhand der uns gemeldeten Vorfälle nachvollziehen. Wir können bestätigen, dass in verschiedensten Situationen Antisemitismus vermehrt auftaucht. Zu strafrechtlich relevanten antisemitischen Delikten können wir aber keine Aussagen treffen – das ist die Aufgabe der Brandenburger Polizei.
Felix Klepzig: Es kann durchaus gesagt werden, dass sich seit dem 7. Oktober auch bei uns die Situation verändert hat. Es gehen vermehrt Fälle ein und mehr Menschen kommen zur Beratung.
Aus Ihrem Monitoring-Bericht geht hervor, dass in Brandenburg im Jahr 2022 keine Vorfälle von israelbezogenem Antisemitismus gemeldet wurden. Gegenwärtig überwiegen bundesweit Meldungen über diese Form des Antisemitismus. Was wird unter israelbezogenem Antisemitismus verstanden? Welche Entwicklungen beobachten Sie in Brandenburg?
Felix Klepzig: Dass keine Fälle von israelbezogenem Antisemitismus gemeldet wurden, bedeutet nicht, dass er nicht existent war. Unsere Fachstelle wie auch die Polizei können nur dokumentieren, was uns gemeldet oder zur Anzeige gebracht wird. Diese Diskrepanz wird immer da sein. Gegenwärtig ist die Situation anders. In Brandenburg wurden in den letzten Wochen jüdisch wahrgenommene Personen unter Bezugnahme auf die israelische Politik antisemitisch beleidigt oder körperlich angegriffen. Auch werden Menschen angegriffen, angefeindet oder beleidigt , die sich mit Israel solidarisieren und nicht als jüdisch angesehen werden.
Bei israelbezogenem Antisemitismus sprechen wir – vereinfacht gesagt – von Aussagen, die sich explizit gegen den Staat Israel richten. Es gibt einen elementaren Unterschied zwischen der Kritik an der israelischen Politik und israelbezogenem Antisemitismus. Es steht jedem frei, sich über die israelische Politik auszutauschen und auch mit Teilen nicht zufrieden zu sein. Aber es gibt eben Grenzen, die über ein normales Maß der Kritik hinausgehen. Etwa, wenn Israel das Existenzrecht abgesprochen wird. Oder Jüdinnen und Juden in Deutschland oder in Brandenburg für das Handeln der israelischen Regierung in Kollektivhaft genommen werden. Auch die Gleichsetzung der israelischen Politik mit der des Nationalsozialismus gehört dazu. Es geht also um Formen oder Äußerungen, die nur dazu dienen, den Staat zu delegitimieren, zu dämonisieren. Menschen hier anzugreifen ist etwas, das weit über eine Kritik der israelischen Politik oder Regierung hinausgeht.
Ein Anstieg antisemitischer Vorfälle wird bereits seit einigen Jahren beobachtet. Während der Corona-Pandemie fanden Verschwörungserzählungen auftrieb, die häufig antisemitisch sind. Sehen Sie eine Verbindung zwischen der Verbreitung solcher Verschwörungsmythen und dem Anstieg antisemitischer Vorfälle? Welche Entwicklung kann beobachtet werden?
Felix Klepzig: Während der Pandemie haben sich Verschwörungserzählungen massiv verbreitet. Dies hat zu einem Anstieg antisemitischer Narrative geführt. Sichtbar wurde dies auch in der Zunahme antisemitischer Vorfälle. Wir betonen aber, dass es sich dabei nicht um neue judenfeindliche Stereotype handelt, sondern um in der Gesellschaft fest verankerte Bilder. Krisenhafte Zeiten wirken wie ein Katalysator für diese. Das ist also kein neues Phänomen. Auch seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel sehen wir, dass sich Verschwörungsideologien hartnäckig halten, insbesondere in den sozialen Medien. Dort gibt es beispielsweise diese irre Idee, dass der terroristische Überfall inszeniert worden sei, um ein militärisches Vorgehen oder eine Intervention in Gaza zu rechtfertigen. Teilweise werden noch größere Pläne zur Landnahme im Nahen Osten über die Grenzen Gazas hinaus vermutet. Und diese Erzählungen werden gerade in den sozialen Medien unkommentiert und ohne Belege sehr stark rezipiert.
Welchen Einfluss hat die steigende Zahl antisemitischer Vorfälle auf jüdische Menschen in Brandenburg?
Miriam Kohl: Es gibt nach wie vor große Verunsicherung. Menschen haben und hatten Angst, nach dem 7. Oktober zu Gottesdiensten zu gehen. Das hat auch Einfluss auf das reguläre Gemeindeleben, das nicht mehr so stattfindet wie vorher. Menschen haben Angst, jüdische Symbole auf der Straße zu tragen, die Kippa oder den Davidstern. Wir bekommen Mitteilungen, dass Menschen ihre Mesusa an der Haustür abnehmen, um nach außen nicht als jüdischer Haushalt erkennbar zu sein. Diese Angst durchzieht den Alltag. Jüdische Menschen stellen sich Fragen wie: Was passiert, wenn ich Handwerker in meine Wohnung lassen muss? Ich kenne Fälle, in denen vor solchen Terminen die Judaica aus dem Regal genommen und versteckt werden. Doch es geht noch viel weiter. Jüdische Menschen lernen Kampfsport, um die ersten 10 Minuten nach einem Angriff und vor dem Eintreffen der Polizei zu überleben. Diese Angst ist real. Und schon kleine Kinder werden mit ihr konfrontiert, wenn sie lernen müssen, wie sie sich bei einem Bombenanschlag zu verhalten haben.
Seit dem Überfall der Hamas bekommen wir auch Meldungen von jüdischen Studierenden, die Angst haben, an die Brandenburger Universitäten zu gehen, weil sie sich in ihrer Sicherheit gefährdet sehen.
Ist die Entwicklung an Universitäten etwas, was Sie überrascht?
Miriam Kohl: Antisemitismus kommt in allen Gesellschaftsschichten vor, auch unter Akademiker*innen. Man kann das nicht auf das eine oder andere Spektrum, sei es jetzt Bildung oder politische Haltung, eingrenzen.
Felix Klepzig: Es ist auch ein Irrglaube, das Phänomen ausschließlich auf politische Ränder zu begrenzen. Es ist eine Form der Menschenfeindlichkeit, die in der Mitte der Gesellschaft verankert ist.
Ihre Fachstelle unterstützt Menschen, die antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren. Welche Angebote gibt es und wie werden diese angenommen?
Miriam Kohl: Zum einen gibt es die Möglichkeit, antisemitische Vorfälle bei uns zu melden. Zum anderen bieten wir weiterführende Beratung für betroffene Zeug*innen und Miterlebende an. Wir hören den Betroffenen zu, denken gemeinsam über weitere Schritte nach. Hierzu zählen weiterführende psychologische oder rechtliche Beratung, Kontaktaufnahme zu Polizei und Justiz und eine Strafanzeige. Wir begleiten gegebenenfalls auch persönlich zu Justiz und Polizei und vermitteln an weitere Beratungsstellen.
Angenommen wird das Angebot ziemlich unterschiedlich. Stetig gibt es Meldungen an uns, bei denen keine weitere Beratung gewünscht ist. Die Menschen möchten einfach, dass diese Vorfälle in die Statistik eingehen, dass sichtbar wird, was sie erlebt haben. Vermehrt werden aber auch persönliche Beratungen im geschützten Umfeld benötigt. Es gibt zudem immer mehr Anfragen, unsere Arbeit vorzustellen.
Neben der Beratung von Betroffenen setzt sich die Fachstelle Antisemitismus auch für die Stärkung jüdischen Lebens in Brandenburg ein. Welche Ideen und Pläne gibt es für das Jahr 2024?
Miriam Kohl: Es gibt zum Beispiel den Jüdischen Salon Brandenburg. Wir haben ihn im letzten Jahr gemeinsam mit den jüdischen Gemeinschaften und Gemeinden entwickelt. Bei Podiumsdiskussionen besprechen wir dabei aktuelle innerjüdische Themen, zum Beispiel: Was braucht man für jüdisches Leben auf dem Land? Was braucht man für jüdische Kindererziehung auf dem Land? Oder welche Sprachen werden zukünftig in jüdischen Gemeinden gesprochen? Das Interesse ist hoch. Einerseits am innerjüdischen Austausch, weil verschiedene jüdische Strömungen dort zusammenkommen, die ansonsten weniger miteinander sprechen. Andererseits erfahren nichtjüdische Teilnehmende, was gerade in jüdischen Communities diskutiert wird. Sie können sich informieren und so auch herausfinden, welche Bedürfnisse es gibt und wie Solidarität gezeigt werden kann.
Auch die Veranstaltungsreihe Jüdisches Kaleidoskop Brandenburg wird dieses Jahr wieder in der Woche um den 9. November herum stattfinden. Es ist explizit eine Plattform für Veranstaltungen, die sich mit zeitgenössischem jüdischen Leben beschäftigen, um die Vielfalt, die wir in Brandenburg haben, zu zeigen.
Darüber hinaus bieten wir verschiedene Weiterbildungsprogramme an. Zur Vielseitigkeit jüdischen Lebens wird es im Rahmen unserer Fortbildungsreihe Jüdischer Jahreskreis – Vielfalt der Traditionen neue Termine geben. Einen Workshop kann ich schon ankündigen: Er wird sich mit Antisemitismus in Computerspielen und der Gaming Community beschäftigen. Das ist ein sehr aktuelles Thema, vor allem für Multiplikator*innen, die mit Jugendlichen arbeiten.
Felix Klepzig: Uns ist es sehr wichtig, dass im Zusammenhang mit jüdischem Leben nicht nur über die Vergangenheit gesprochen wird. Wir versuchen verstärkt auf die Gegenwart zu schauen. Was gibt es heutzutage für jüdisches Leben in Brandenburg? Wie kann man es sichtbar machen, wie kann darüber fortgebildet werden? Wie können Menschen in Kontakt gebracht werden? Wir wollen niedrigschwellige Angebote schaffen, damit jede*r daran teilnehmen kann.
Miriam Kohl: Wir wollen zudem alle Regionen in Brandenburg abdecken. Wir organisieren Veranstaltungen in Brandenburg an der Havel, Frankfurt (Oder) oder auch in der Uckermark, um dort die Menschen zu erreichen.
Felix Klepzig: Das Phänomen Antisemitismus hört natürlich nicht an der Brandenburgischen Grenze auf. Deshalb versuchen wir Kooperationen mit den angrenzenden Bundesländern aufzubauen und erarbeiten beispielsweise mit Kolleg*innen aus Mecklenburg-Vorpommern Online-Formate. Völkische Siedler*innen oder Rechtsrock und Antisemitismus sind beispielsweise Themen, die auf beiden Seiten der Grenze relevant sind. So kann ein zivilgesellschaftlicher Austausch über unsere Arbeitspraxis stattfinden und voneinander gelernt werden. Wir haben auch gute Kontakte mit jüdischen Communities in Sachsen aufgebaut und gemeinsam Veranstaltungen organisiert.
Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft in Brandenburg bei der Bekämpfung von Antisemitismus und der Unterstützung jüdischer Gemeinden? Welche Erfahrungen gibt es?
Miriam Kohl: Es ist leider immer noch so, dass ein Großteil der Menschen ihre Solidarität eher bei Gedenkveranstaltungen zeigen. Aber es gibt so viel mehr Möglichkeiten sich mit Jüdinnen und Juden zu solidarisieren. Zum Beispiel bei Veranstaltungen zu jüdischen Feiertagen und zeitgenössischem jüdischen Leben. Es gibt in größeren Städten immer lokale Feiern, die öffentlich zugänglich sind. Wenn man dort sichtbar ist, wird das von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft gesehen. Es ist sehr wichtig, dass nicht nur nach hinten geschaut wird, sondern nach vorne. Auf jüdische Gemeinden zugehen, Präsenz zeigen, an den Feiertagen teilnehmen – das zeigt auch Wertschätzung.
Felix Klepzig: Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse wäre es wichtig, mit den jüdischen Communities vor Ort in Kontakt zu sein und Barrieren abzubauen. Solidarität kann sein, bei den Gemeinden vorbeizugehen und zu sagen: Wir unterstützen euch. Oder bei Solidaritätsveranstaltungen Präsenz zu zeigen. Denn das ist zu kurz gekommen. Natürlich schreibt sich schnell mal ein Statement. Auch die Gedenkveranstaltungen sind sehr gut besucht. Da kommt man einmal im Jahr und stellt sich hin. Wenn es aber um Veranstaltungen zu zeitgenössischem jüdischen Leben geht oder um aktuelle Problemlagen, dann ist es wieder recht schnell leer. Sich offen mit Antisemitismus auseinanderzusetzen und den Finger in die Wunde legen, zum Beispiel in seinem Sportverein, das würde ich mir wünschen.
Gibt es auch Dinge im Alltag, die von der Zivilgesellschaft geleistet werden können? Was fehlt den Betroffenen?
Miriam Kohl: Einzuschreiten ist ein ganz wichtiger Punkt. Natürlich müssen sich Zeug*innen erst vergewissern, dass sie sich nicht selbst in Gefahr bringen. Aber wenn es möglich ist und man einen antisemitischen Vorfall mitbekommt, dann ist es wichtig, der betroffenen Person den Rücken zu stärken. Wir hören ganz oft: Da ist so viel Schweigen. Wenn Menschen in einem Bus, in dem zwanzig Leute sitzen, verbal angegriffen werden und niemand etwas sagt. Zusätzlich zur Gewalt, die man erfährt, tut das sehr weh.
Was möchten Sie den Leser*innen noch mitgeben?
Felix Klepzig: Was uns sehr wichtig ist: Meldet antisemitische Vorfälle – egal ob strafbar oder nicht. Nur so sind wir in der Lage, die gesellschaftliche Situation abzubilden. Denn zu häufig werden Vorfälle nicht gemeldet. Dies ist auf unserer Plattform (https://www.kiga-brandenburg.org/vorfall-melden/) relativ einfach möglich und es müssen nur die notwendigsten Fragen beantwortet werden. Außerhalb der E-Mail Adresse, die bei uns in der Datenbank gespeichert und nur von uns einsehbar ist, bleibt man anonym. Man wird nicht zwangsläufig danach kontaktiert, die Vorfälle werden nur statistisch erfasst. Wenn gewünscht, kann eine Beratung in Anspruch genommen werden.
Miriam Kohl: Wir möchten als Ansprechpartner*innen rund um das zeitgenössische jüdische Leben in Brandenburg wahrgenommen werden. Wenn es dort Fragen gibt oder Vernetzungsbedarf, dann scheut euch nicht, uns zu kontaktieren. Nehmt an unseren Veranstaltungen, unseren Workshops teil. Wir kommen auch gerne vorbei und helfen, Themen zu verstehen und Menschen zu sensibilisieren.